H. Albrecht: Antiliberalismus und Antisemitismus

Title
Antiliberalismus und Antisemitismus. Hermann Wagener und die preußischen Sozialkonservativen 1855-1873


Author(s)
Albrecht, Henning
Series
Otto-von-Bismarck-Stiftung, Wissenschaftliche Reihe 12
Published
Paderborn 2010: Ferdinand Schöningh
Extent
596 S.
Price
€ 85,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Anna Gianna Manca, Storia delle istituzioni politiche, Facoltà di Lettere e Filosofia, Università degli Studi di Trento

Dass der deutsch-preußische Konservatismus des 19. Jahrhunderts nach der großen Liberalismusstudienwelle der letzten dreißig Jahre des vergangenen Jahrhunderts wieder ins Zentrum des Interesses der deutschen Geschichtsschreibung rücken würde, war vorauszusehen. Nicht so leicht vorauszusehen war hingegen, dass das erneuerte historiografische Interesse am politischen Konservatismus auch einen neuen Anlass dazu geben würde, den Zusammenhang von Konservatismus und Antisemitismus zu untersuchen und dabei insbesondere die Zeit vor 1874 quellennäher als bisher zu bewerten. Bekanntlich hat die Literatur erst von diesem Zeitpunkt an von einer modernen (postemanzipatorischen) Judenfeindschaft gesprochen, derer sich nunmehr auch die Parteipolitik geschickt zu bedienen wusste.

Der oben genannte Zusammenhang ist von Henning Albrecht am Beispiel der politischen Bewegung der preußischen Sozialkonservativen im Umfeld Hermann Wageners (1815-1889) für die bisher vernachlässigte Zeit zwischen Revolution und Reichsgründung untersucht worden. Am Ende seiner Recherchen ist er im Stande zu zeigen, dass der genannte Zusammenhang bzw. die Entwicklung eines konservativen „Frühantisemitismus“ wenigstens für Preußen auf das Ende der 1850er-Jahre zurückdatiert werden kann.

Zum „modernen“ Antisemitismus sind die deutsch-preußischen Sozialkonservativen nach Albrecht unter dem Druck der Krise der konservativen Partei 1858 (S. 48-53) geschritten. Er unterscheidet diesen „modernen“ Antisemitismus begrifflich von der Judenfeindschaft, da im ersten Fall den Juden auch mit rassistischen Argumenten „die gesellschaftliche und politische Gleichwertigkeit“, und nicht nur die rechtliche Gleichstellung abgesprochen wurde (S. 95-140 und insbesondere S. 103-126). Diese „moderne“ antisemitische Haltung kam exemplarisch im (sozial-)konservativen Vorwurf zum Ausdruck, die Juden hätten mit Unterstützung der kapitalismusfreundlichen liberalen Politik das deutsche soziale und wirtschaftliche Leben okkupiert, und somit die natürliche, auf christlicher Religion, Tradition, Sitte, Boden, historisch „Gewachsenem“ fußende Harmonie und Stabilität der deutschen nationalen Volksgemeinschaft zerstört.

Mit dem Anbruch der „Neuen Ära“ war nämlich die alte konservative Partei um Ernst Ludwig von Gerlach und Friedrich Julius Stahl in eine tiefe politische und parlamentarische Krise geraten. Die neue (sozial-)konservative Generation um Hermann Wagener (S. 54-64) und Moritz von Blanckenburg versuchte, sich eine breitere Wählerbasis unter den vermeintlichen „Verlierern“ des Industrialisierungs- und Modernisierungsprozesses bzw. den Opfern der nivellierenden Liberalisierungspolitik der Liberalen zu verschaffen. Als Mittel dieser Politik dienten die Gründung des Preußischen Volksvereins 1861 (S. 331-359) und eine parallele, intensivere publizistische Aktivität.

Der Auseinandersetzung der Sozialkonservativen mit der „Sozialen Frage“ widmet Albrecht den letzten Abschnitt des ersten Teils seiner Arbeit (S. 37-154). Danach stellt er sich im zweiten, umfangreicheren und zentraleren Arbeitsteil (II. Teil: „Die Hochkonjunkturen des sozialkonservativen Antisemitismus: Von der ‚Neuen Aera‘ bis zu den ‚Einigungskriegen‘, 1860 bis 1864“ und „Der Versuch zur Gründung einer sozialkonservativen Partei, 1869 bis 1873“, S. 153-541) der Aufgabe, den von den Sozialkonservativen in ihren öffentlichen Äußerungen, in ihren publizistischen Organen und in ihren institutionellen Vereinsaktivitäten immer wieder gebrauchten antisemitischen Vorwürfen und Stereotypen sehr sorgfältig und stark analytisch nachzugehen. Die Frage, ob der auch rassistisch fundierte Antisemitismus im (sozial-)konservativen Diskurs von Anfang an einen festen Platz gehabt habe, also eine konsequente Folge einer bestimmten konservativen Werte- und Prinzipienhierarchie gewesen sei, oder aber eher politisch-instrumentellen (antiliberalen) Charakter gehabt habe, scheint dabei einer der heuristischen Hauptleitfäden Albrechts gewesen zu sein.

Die sozialkonservative Tageszeitung „Das Preußische Volksblatt“ (S. 200-248) betreibt ihre Agitation zur „Judenfrage“ schon 1860, nach dem Flottwellschen Reskript vom 16. Februar 1859 gegen den Ausschluss der Juden von preußischen obrigkeitlichen Ämtern, und stemmt sich damit gegen die Erfüllung der Artikel 4 (Gleichheitsgrundsatz) und 12 (Religionsfreiheit) der preußischen Verfassung von 1850. Die der Judenfrage von diesem Zeitpunkt an – und noch intensiver nach dem Ausbruch der Auseinandersetzung um die von den Liberalen angestrebte Gewerbefreiheit – verliehene „Dominanz“ war geeignet, die sozialkonservative These von der drohenden beziehungsweise schon bestehenden „Judenherrschaft“ auch implizit zu unterstützen (S. 206). Bei den durchaus auch rassistisch begründeten antisemitischen Artikeln ist immer eine „politisch-funktionale Verbindung von Antisemitismus und Antiliberalismus festzustellen“ (S. 242).

Ab Ende des Jahres 1862 ging die judenfeindliche Agitation des Volksblattes auf das Satireblatt der Konservativen, den „Kleinen Reaktionär“, über (S. 360-407), welcher ein Organ des Preußischen Volksvereins war und in dem ständig antisemitische und antiliberale Karikaturen bzw. Bildwitze zum Angriff auf den politischen Gegner, die Fortschrittspartei und den Nationalverein, eingesetzt wurden. Deren Diffamierung als „jüdisch“ zielte darauf, ihnen den patriotischen Charakter abzusprechen (S. 381) bzw. sie als „Judenwerkzeuge“ zu brandmarken (S. 388). Ab Ende Februar 1864, als die schleswig-holsteinische Frage wieder akut wurde, traten im „Kleinen Reaktionär“ die Soziale Frage und die „Judenfrage“ in den Hintergrund. Die erste „Hochkonjunktur des sozialkonservativen Antisemitismus“ – eine zweite Hochkonjunktur fand im Rahmen der Versuche zur Gründung einer starken nationalen sozialkonservativen Partei 1869 bis 1873 statt (S. 461-509) – kam nach Albrecht somit zu Ende, als „der reale äußere Feind […] die Konstruktion des inneren Feindes“ ersetzte (S. 405), was den politisch-funktionalen und vorwiegend instrumentellen Charakter des sozialkonservativen Antisemitismus bestätigt.

Einen stark „konjunkturell-funktionalen Charakter“ weist auch die sozialkonservative Judenfeindschaft auf, die man in dem zunächst von Hermann Wagener und ab 1861 vom ehemaligen Linkshegelianer Bruno Bauer herausgegebenen „Staats- und Gesellschaftslexikon“ (1859-1867) antreffen kann (S. 249-243). Vor allem in den zwischen 1860 und 1864 veröffentlichten Bänden findet „die gesamte Palette bekannter judenfeindlicher Stereotype“ (S. 268) Anwendung und bei einer andauernd anklingenden politisch-instrumentellen Gleichsetzung von Liberalismus und Judentum ist sogar von einer „neuen [Juden-]Ära“ (S. 282) die Rede. Die von konservativen Historikern immer wieder vertretene Legende, Bruno Bauer sei für die Einführung des Antisemitismus im sozialkonservativen Lager verantwortlich zu machen, wird von Albrecht entschieden verworfen (S. 272-275). Schon vor Bauer war der „Liberalismusbegriff bereits mit antisemitischen Stereotypen aufgeladen“ (S. 293). Ihm sei nur „ein[en] Beitrag zur denunziatorischen, antisemitischen Erweiterung des Begriffs Juden“ anzulasten, da „die Bezeichnung der Jude bei Bauer […] für den angeblich weltweiten Verbund der Juden“ verwendet wird, die „wie ein Organismus agierten“ (S. 275). Eines steht auf jeden Fall für Albrecht fest: „[D]as abwertende Judenbild des Lexikons“ war Mittel „zur Konstruktion eines national-identitären Kollektivs“ – jüdisch zu sein, hieß hier, anti-deutsch zu sein (S. 289).

Parallel zur antisemitischen Neuakzentuierung des „Preußischen Volksblattes“ wurde die „Judenfrage“ von Beginn des Jahres 1860 an auch in der Wochenschrift „Berliner Revue“ (S. 294-330) aufgegriffen, unter deren Mitarbeitern sich auch Bruno Bauer befand. Auch hier war die „instrumentelle Verwendung des negativen Judenbildes gegen die Liberalen offensichtlich“ (S. 321). Schon in dieser Zeitschrift findet die für das judenfeindliche Klima des Kaiserreichs charakteristische Forderung einer „Emanzipation von den Juden“ großen Widerhall.

Durch diese Arbeit gelingt es Albrecht, die Stellungnahmen von Historikern wie Hans Joachim Schoeps und in jüngster Zeit von Hans-Christof Kraus (S. 20) in Frage zu stellen, wonach die These eines konservativen Antisemitismus für die 1860er-Jahre „unhaltbar“ (S. 20) oder aber der Antisemitismus in die Reihen der Konservativen von außen her, das heißt durch Persönlichkeiten wie Bruno Bauer, importiert worden sei (zum Beispiel S. 300). Das konservative, judenfeindliche Klima des Kaiserreichs und das ausgesprochen antisemitische zweite Parteiprogramm der Konservativen, das so genannte „Tivoli“-Programm von 1892, sind nach Albrecht nicht „aus dem Nichts entstanden“ (S. 511).

Vermag Henning Albrecht mit dieser Arbeit auch einen früheren Bezug als bisher anerkannt zwischen (Sozial-)Konservativismus und „modernem“ Antisemitismus herzustellen, ist er trotzdem der Ansicht, dass es falsch sei, daraus zu schließen, dass der Antisemitismus konstitutiv für die Weltanschauung der (Sozial-)Konservativen gewesen sei. Albrechts subtile und sich durch die ganze hier besprochene Arbeit durchziehende Beweisführung, dass die (sozial-)konservative Handhabung der „Judenfrage“ keinen prinzipiellen, sondern „eher“ politisch-instrumentellen Charakter gehabt habe, verwundert trotzdem ein wenig: Die Feststellung von Hochkonjunkturen in der konservativen Handhabung von Antisemitismus sowie dessen vorwiegend politisch-instrumenteller Charakter erlauben meines Erachtens nicht, eine sich klar vom Antisemitismus absetzende konservative Weltanschauung zu erkennen.

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